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Fördert agiles Arbeiten Motivation und Gesundheit?

Der Siegeszug agiler Arbeitsformen schreitet in Schweizer Unternehmen voran. Agil verspricht höhere Flexibilität, Kunden- und Marktorientierung. Erstaunlicherweise ist erst wenig darüber bekannt, wie sich agile Arbeitsformen auf die Motivation und Gesundheit der Mitarbeitenden auswirken.

Prof. Dr. Andreas Krause,
FHNW

Die vorliegenden Studien werden im Faktenblatt 39 von Gesundheitsförderung Schweiz zusammengestellt und kommen überwiegend zu einem positiven Ergebnis:

  1. Selbstorganisierte Teams sind ein Herzstück agiler Arbeitsformen. Die Autonomie im Arbeitsalltag ist in agilen Teams hoch ausgeprägt, was Zufriedenheit und Motivation erhöht. Besonders stark ausgeprägt ist die Autonomie in interdisziplinären Teams, die dauerhaft Verantwortung für ein Produkt bzw. eine Dienstleistung übernehmen.
  2. Schritt für Schritt (iterativ) wird das angestrebte Produkt erarbeitet und der jeweilige Fortschritt (Inkrement) bewertet. Die Arbeitsmenge ist gleichmässiger über die Zeit verteilt. Bei der bislang üblichen Projektarbeit waren Peaks vor Deadlines üblich, phasenweise musste deutlich mehr und intensiver gearbeitet werden. Bei hochagiler Arbeit verteilt sich die Arbeitsmenge besser über die Zeit, so dass auch das Stressempfinden weniger schwankt.
  3. Feedback zwischen den Teammitgliedern nimmt zu: Erstens fördern Rückmeldungen zum abgelieferten Arbeitsergebnis Klarheit über die Ziele des Teams und den eigenen Beitrag – und das motiviert. Zweitens reflektieren die Teammitglieder ihre eigene Zusammenarbeit in Retrospektiven und gestalten so die eigene Arbeitssituation selbst mit.
  4. Lernförderlich sind Phasen, in denen intensiv zu zweit zusammengearbeitet wird. Dieser individuelle Kompetenzaufbau im direkten persönlichen Kontakt wird sehr positiv erlebt.
  5. Mit zunehmender Umsetzungserfahrung werden die gesundheitsrelevanten Vorteile agiler Arbeitsformen stärker wahrgenommen, insbesondere die Entlastung und die Unterstützung. Positive Effekte auf Gesundheit und Stresserleben in agilen Arbeitsteams stellen sich ein.
  6. Das bewusste Einführen einer Rolle, die für störungsfreies, fokussiertes Arbeiten sorgt (z.B. Scrum Master), fördert über verbesserte Arbeitsbedingungen auch Motivation und Gesundheit. Wenn Führung auf Augenhöhe oder sogar dienend («servant leadership») erfolgt, geht es den Mitarbeitenden besser.

 

Doch es wäre naiv anzunehmen, dass agile Arbeitsformen stets gesundheitsförderlich sind. Der Schritt hin zur Selbstorganisation muss auch durch den Betrieb intensiv unterstützt werden, denn neue Kompetenzen sind erforderlich. Reibungen im Miteinander sowie Selbstgefährdung angesichts anspruchsvoller Ziele können zunehmen.

BGM-Fachpersonen oder HR-Business Partner, die den Wandel unterstützen, müssen selbst Erfahrung im agilen Arbeiten haben. So werden Fallstricke erkannt, die agiles Arbeiten begleiten. Möglicherweise fokussieren agile Teams einseitig auf die Aufgabenerledigung und erwecken den Eindruck, auf die Zusammenarbeit (wie er in Retrospektiven vorgesehen ist) verzichten zu können. Oder agile Methoden werden zwar eingesetzt, doch die entsprechende Haltung – das agile Mindset – fehlt. Dann werden zwar Schlagworte wie ‘Kundenzentrierung’ und ‘Iterationen’ benutzt, aber nicht umgesetzt. Das agile Team sucht selbst nach definitiven Lösungen, ohne die Nutzerinnen und Nutzer zu fragen und über erste Prototypen Lösungen im Kundenkontakt stetig weiterzuentwickeln. Von besonderer Bedeutung ist also das Zum-Vorschein-bringen solcher Fallstricke, die von den betroffenen Teams selbst nicht klar erkannt werden.

 

Um die motivierende, gesundheitsförderliche Wirkung agiler Arbeitsformen im Blick zu haben, braucht es eine offene Kommunikation. Nicht nur die üblichen Kennzahlen zur Produktivität werden transparent und zum Thema gemacht, auch das Befinden und Erleben kommen zum Vorschein. Waren die Schätzungen zum Arbeitsaufwand realistisch oder haben wir uns zu viel vorgenommen? Erhalte ich unkompliziert Unterstützung bei Bedarf oder erlebe ich Konkurrenz im Team? Entfällt der Austausch über die bisherige Zusammenarbeit, da scheinbar keine Zeit vorhanden ist? Sind wir im agilen Team fähig zu konstruktivem Feedback oder halten wir uns lieber zurück?

HR-Fachpersonen oder BGM-Fachpersonen unterstützen die agilen Teams auf dem Weg zur Selbstorganisation, auch indem sie das Bewusstsein für die Bedeutung von Gesundheit und Motivation bei jenen Rollen stärken, welche Führungsaufgaben wahrnehmen (z.B. Scrum Master, Agile Coach).

Um Akzeptanz zu erreichen, kommt es auch auf die Wortwahl an. Möglicherweise ist es in manchen Unternehmen und Teams hilfreich, statt von Gesundheit beispielsweise von psychologischer Sicherheit zu sprechen. Die Aristoteles-Studie von Google bestätigte die Annahme von Amy Edmondson, wonach gegenseitige Offenheit ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Teams bei Google ist. Je offener und konstruktiver über Unsicherheiten und Fehler gesprochen werden kann, desto erfolgreicher sind Teams und desto besser geht es den Teammitgliedern. In der Folge ist es z.B. in IT-Unternehmen selbstverständlich geworden, psychologische Sicherheit als bedeutsam zu akzeptieren. Bei der Einführung agiler Arbeitsformen ist es sinnvoll, diesen offenen Austausch über Retrospektiven zu fördern, in denen die Zusammenarbeit und alle auftretenden Fragen und Unsicherheiten zum Vorschein gebracht werden können.

Fazit: Studien belegen, dass agile Arbeitsformen das Potenzial zur Gesundheitsförderung haben. Aber das muss in jedem Betrieb beobachtet und geprüft werden. Es lohnt sich, Selbstbeobachtung und offenen Austausch über eine Prozessbegleitung agiler Teams in Retrospektiven zu integrieren. Hierbei sollte auf die Wortwahl geachtet werden: Manche Teams werden auf Auslastung oder «Keep the balance» positiv reagieren, andere auf Befinden, Stress oder psychologische Sicherheit. Nur wenn sich die Teams die Wirkung agiler Arbeitsformen auf sich selbst in ihrem Arbeitsalltag einbauen, bewegt sich das agile Team gemeinsam in eine nicht nur produktivere, sondern auch gesundheitsförderliche Richtung.